Christoph-TiTo-Klesse
  Trost
 

 

 

Vom Engel, der das Trösten lernte
Ein Märchen


Bonifazius war neu an seinem Arbeitsplatz.
Schrecklich neu und schrecklich nervös. Schließlich hatte er so etwas noch nie gemacht.

Er war hierher versetzt worden. Ob als Beförderung oder Strafversetzung konnte er noch nicht so ganz erkennen. Nervös blickte er auf seine neuen, schneeweißen Visitenkarten:

Himmlischer Trauerbeauftragter – Engel vierten Grades

stand da in großen Buchstaben drauf.

Trost solle er den Trauernden auf Erden spenden, hatte sein neuer Hauptamtsleiter ihm gesagt. Trost. Das sei der Wille des Schöpfers. Selig sind die Trauernden, denn sie sollen getröstet werden. Das war eine ganz neue Welt für ihn.

Er war doch ein hoch qualifizierter Turboschutzengel. Er hatte eine Zusatzausbildung zur Deckung besonders gefährdeter Personen. Das heißt Personen, die lebensgefährliche Leidenschaften pflegen: Bungee Jumping, Fallschirmspringen, Mountain biking, Haifischtauchen, Free Falling, Boxen.
Er selbst hatte ein gewisses persönliches Interesse an solchen Sportarten und verpasste kaum eine
Gelegenheit seine Schützlinge beim Spiel zu beobachten und flutschte gerne mal hinterher auch wenn es gar nicht nötig war. „Um in Form zu bleiben“, sagte er immer.

Und nun war er Trauerbeauftragter. Was hatten sich seine Vorgesetzten nur dabei gedacht?
Er stöhnte und seufzte. Es führte kein Weg daran vorbei. Engel können sich ihre Aufgaben eben auch nicht auswählen. Notgedrungen besuchte unser Engel seine erste Trauerfeier auf Erden.

„Au, ist das miserabel“, dachte unser Engel. „Miserabel“, als er die Gesichter der Weinenden um sich sah. Aber weil unser Engel doch ein großes Herz hatte und das Weinen der Leute nicht aushalten konnte, klopfte er jedem väterlich auf die Schulter und sagte den einzigen Satz, der ihm einfiel: „Das wird schon wieder“, sagte er immer wieder. „Das wird schon wieder.“

Aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass dies nicht als sonderlich hilfreich oder tröstend empfunden wurde. Also zog sich unser Engel wieder in den Himmel zurück und überlegte, wie er dieser Situation beim nächsten Mal besser begegnen könnte.

Und so machte er eine Liste mit Sätzen, die er den Trauernden sagen konnte. „Das wird schon wieder“ hat offensichtlich nicht so gut funktioniert. Vielleicht sollte er sich mehr auf ihre Gefühle konzentrieren. Die Menschen haben es ja immer so mit Gefühlen. Denen müssen Schranken gesetzt werden.
„Man darf den Kopf doch nicht so hängen lassen.“ Schöne bildhafte Sprache. Das würden sie verstehen. „Lassen Sie sich doch nicht so gehen.“ Das wäre ein guter Rat, dachte er, nickte und schrieb auch diesen Satz auf seine Liste. „Ist doch alles nicht so schlimm“ könnte ihnen ein neues
Verständnis der Wirklichkeit geben. Er könnte sie auch auf andere, noch tragischere Schicksale hinweisen. Das würde ihnen bestimmt helfen, ihren Verlust in Relation zu sehen. „Es hätte schlimmer kommen können“ wäre auch gut. Keiner weiß, was ihm alles erspart blieb durch einen frühen Tod.
Und wenn das nicht half: „Sie sollten wirklich eine Therapie machen“ – ja, die Menschen würden seinen Rat sehr schätzen. Therapie ist schließlich eine gute Sache.

Mutig wagte er sich auf die nächste Trauerfeier auf Erden, ging schnurstracks auf die Angehörigen zu und verteilte großzügig seine (weniger hilfreichen aber durchaus gut gemeinten) Ratschläge.
Viel Glück hatte er nicht. Einer der Angehörigen, den er von seinem früheren Aufgabenbereich erkannte, weil er ein bekannter Boxer war, hielt seine Meinung über die von Bonifazius gegebenen Ratschläge nicht hinterm Berg, holte einmal aus und verpasste dem Engel seinen allerersten Kinnhaken. „Dich hab ich mal beschützt“, murmelte Bonifazius als er taumelnd wieder gen Himmel flog. Dass die Arbeit mit Trauernden so gefährlich werden würde, hätte er sich nie vorstellen können. Und Gefahrenzulage gab es für diese Beschäftigung auch keine.


Etwas zerknirscht saß er an seinem Arbeitsplatz. „Vielleicht fehlt es dir einfach an persönlicher Trauererfahrung. Du musst deine eigenen Verluste erst mal aufarbeiten“ schlug ein anderer Engel vor. Also entschied er sich, über sein Leben und seine Verlusterfahrungen nachzusinnen.

Vor vielen, vielen Jahren hatte er einmal versehentlich seinen Lieblingsball in ein benachbartes Universum geworfen und nicht mehr zurück erhalten. Seine Mutter war schrecklich böse mit ihm gewesen und hatte ihn gescholten, weil er unter Lebensgefahr versucht hatte, dem Ball nachzufliegen. Sie hatte nicht verstanden, wie wichtig gerade dieser Ball für ihn war. Ja, dachte er.
Auch ich wurde missverstanden in meiner Jugend. Ich teile das Schicksal der Welt. Und einmal starb sein Goldfisch. Er lag plötzlich tot in seinem Aquarium. Seine Mutter hatte noch versucht,
ihn zu täuschen, erzählte ihm, der Goldfisch würde nur einen Winterschlaf machen und wollte ihn dann mit einem anderen austauschen, bevor er es bemerken würde. Aber er war einfach gewiefter als sie dachte und überraschte sie dabei, wie sie gerade den alten aus dem Aquarium fischte, um ihn zu ersetzen. Auch er hatte Trauererfahrungen. Er weinte über seinen Goldfisch und seinen Ball. Tagelang.


Jetzt würde er der Menschheit besser dienen können. Mit seinen bewusstgemachten Verlusterfahrungen konnte er ihr Leid teilen. Ein paar Tage später machte Bonifazius sich wieder auf den Weg zu einer Trauerfeier.

„Ich weiß wie Sie sich fühlen“, sagte er den Hinterbliebenen und wischte sich eine Träne aus den Augen, „auch ich habe jemanden sehr wichtiges unter tragischen Umständen verloren. “ Erwartungsvoll sahen ihn die Angehörigen an. „Meinen Goldfisch, vor vielen, vielen Jahren… Möchten sie vielleicht ein Bild sehen?“ Es erging unserem Engel kaum besser als beim letzten
Mal. Zwar erhielt er keinen Kinnhaken von einem berühmten Boxer, aber der Hieb mit dem Regenschirm der alten Dame hat auch ganz schön gesessen.

Vielleicht sollte er sich mehr auf Trauernde konzentrieren, die schon ein wenig weiter
auf dem Weg waren und vielleicht nicht mehr ganz so empfindlich sind, dachte er. Also besuchte Bonifazius eine Trauergruppe. Anwesend waren ganz, ganz viele Frauen und sehr, sehr wenig Männer. Andächtig hörte Bonifazius zu, als die Trauernden berichteten wie es ihnen in der letzten Zeit ergangen war. Eine Frau fiel ihm ganz besonders auf, vor allem weil ihm die Zeit des Verlustes schon sehr, sehr lange her erschien (es war gerade mal ein Jahr) und diese Frau offensichtlich noch nicht damit zurecht gekommen ist.
In der Kaffeepause sagte er zu jener Dame: „Sie trauern ja immer noch um ihn!“ „Er ist ja auch immer noch tot!“, entgegnete sie resolut.
Zwar hatte sie ihn nicht geschlagen, aber es fühlte sich an wie eine Ohrfeige, und betroffen machte er sich auf zurück in sein Büro.

Er würde ein paar Bücher zum Thema lesen, dachte er. Psychologische Bücher. Und immer wieder las er, dass man den Verstorbenen loslassen müsste. Loslassen. Endlich mal wissenschaftlich fundierter, psychologisch begründeter Rat. „Sie müssen loslassen.“ Bonifazius übte diesen Satz mit passender Miene vor dem Spiegel. Er entschied sich für ein wohlwollendes, weises Lächeln.

Bei der nächsten Gelegenheit setzte Bonifazius sein eingeübtes Gesicht auf und sagte mit warmen, mitfühlendem Ton: „Sie müssen loslassen.“ „Ich kann und will aber nicht“, kam es faustdick zurück. Das war eine klare Aussage.

Bonifazius hatte genug. Er zog sich in den Himmel zurück und entschied sich, dass man Trauernden am besten aus dem Weg geht. Wenn er einen in der Stadt sah, tat er, als hätte er ihn nicht gesehen oder wechselte schon lange im Voraus die Straßenseite. So mied er sie allesamt, weil er dachte, er könnte nie erfolgreich sein sie zu trösten, er könnte nicht helfen, er könnte sie nicht wieder glücklich machen. Er würde immer alles nur schlimmer machen. Dabei wollte er so sehr, dass sie wieder lachten, dass sie wieder fröhlich sein könnten. Dass sie endlich aufhörten, so traurig zu sein.

Und aus einer Distanz heraus beobachtete er sie. Er sah wie schwer ihnen die ganz alltäglichen Dinge fielen. Die Wohnung aufräumen, die Wäsche waschen, die Rechnungen bezahlen und sich mit Versicherungen rum schlagen, die Kinder zur Schule bringen und öffentliche Verkehrsmittel benutzen, sich die PIN Nummern für EC Karten zu merken oder Anträge ausfüllen. Oft wollten sie nichts kochen und nichts essen.

Und so schickte er sich an, ihnen einfach hin und wieder mal ungesehen etwas Gutes zu tun. Die Tür aufzuhalten, wenn sie schwere Taschen trugen, den Bus anzuhalten, wenn sie fast zu spät kamen, das Bügeleisen und die Herdplatte auszuschalten, die sie vergessen hatten, den Wäscheknopf heimlich von 90 auf 30 Grad zu drehen, wenn sie mal wieder Wolle kochen wollten und ihnen die PIN Nummer für ihre EC Karte zuzuflüstern. Andere anzupieksen, ihnen gelegentlich was zu Essen zu machen. Für eine beiläufige Umarmung zu sorgen.
Manchmal, da schickte er den Witwen kleine, schwarze Möpse und andere Hunde, die sie streicheln konnten und die mit großen Augen zu ihnen aufblickten.

 

 

Er lernte, ein Freund zu sein der nichts tat, als da zu sein und den Schmerz auszuhalten.


(Verfasser unbekannt)



 
 
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